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Äpfel mit Birnen vergleichen

1. Ein Apfel, eine Birne und die Falle des Vergleichens

Stell dir vor, auf deinem Schreibtisch liegen ein Apfel und eine Birne. Beide sind saftig, nahrhaft und gesund. Beide haben ihre Berechtigung. Niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, sie gegeneinander „auszuspielen“.

Ein Apfel ist kein besserer Birnen-Ersatz, und eine Birne ist kein Apfel zweiter Klasse.

Und doch verhalten wir uns im Berufsleben oft genau so: Wir vergleichen uns mit Kolleg:innen, die ganz anders ticken. Wir messen uns an Normen, die nie für uns gemacht wurden. Wir zweifeln, weil wir das Gefühl haben, weniger leistungsfähig, weniger belastbar oder weniger „richtig“ zu sein.

Besonders neurosensitive Menschen kennen dieses Muster: Sie sehen sich ständig im Spiegel der Anderen und schneiden dabei gefühlt schlechter ab. Das führt zu Frust, Energieverlust und oft sogar zum inneren Rückzug.

Doch hier liegt der Denkfehler: Wer Äpfel mit Birnen vergleicht, übersieht die eigentliche Qualität.

2. Warum wir überhaupt vergleichen

Vergleichen ist zutiefst menschlich. Schon Kinder vergleichen, wer schneller rennen, höher klettern oder schöner malen kann. Vergleiche geben uns Orientierung. Sie helfen, sich einzuordnen und den eigenen Platz zu finden.

Im Berufsalltag sind Vergleiche allgegenwärtig:

  • Wer liefert Projekte schneller ab?
  • Wer hält mehr Meetings durch?
  • Wer kann länger konzentriert arbeiten?
  • Wer ist belastbarer, stressresistenter, effizienter usw..?

In Unternehmen wird Leistung oft in harten Zahlen gemessen: in Stunden, Umsätze oder Stückzahlen. Was sich nicht in Tabellen erfassen lässt, droht unsichtbar zu bleiben. Genau da geraten neurosensitive Menschen unter Druck. Ihre Qualitäten liegen oft nicht im sofort Sichtbaren, sondern im Hintergrund, mit leisen Tönen; sie arbeiten vermehrt in der Tiefe, anstatt an dem Front.

3. Das Problem mit Äpfel-Birnen-Vergleichen

Das Tückische: Vergleiche suggerieren Objektivität. Doch in Wahrheit sind sie selten fair.

Ein Beispiel aus dem Arbeitsalltag:

  • Kollegin A steckt nach einem intensiven Meeting voller Energie und sprudelt direkt weiter.
  • Kollege B – neurosensitiv – braucht nach demselben Meeting erst einmal 20 Minuten Pause, um Reize zu verarbeiten.

Wenn beide nach dem Kriterium „Wer macht schneller weiter?“ bewertet werden, verliert Kollege B automatisch. Doch ist er deshalb weniger wertvoll? Im Gegenteil: Seine Fähigkeit, Zwischentöne wahrzunehmen, Konflikte früh zu spüren oder komplexe Zusammenhänge zu erkennen, taucht in der Bilanz gar nicht auf.

Der Kernfehler ist, wir legen ein Massband an, das nur für bestimmte Typen passt. Neurosensitive Menschen geraten dadurch in ein Spiel, das sie nicht gewinnen können, weil die Regeln nie für sie geschrieben wurden.

4. Was stattdessen Sinn macht: der Perspektivwechsel

Statt Äpfel und Birnen gegeneinander aufzuwiegen, lohnt sich ein anderer Blick:

  1. Vergleiche innerhalb derselben Kategorie
    – Ein Apfel kann mit einem anderen Apfel verglichen werden.
    – Für neurosensitive Menschen bedeutet das: Miss dich nicht an den Energieleveln von Kolleg:innen, sondern an deinem eigenen Fortschritt.
  2. Eigene Spielregeln anerkennen
    – Birnen punkten nicht durch Knackigkeit, sondern durch Saftigkeit.
    – Neurosensitivität bringt andere Qualitäten: Muster erkennen, Tiefgang, hohe Empathie.
  3. Wachstum statt Defizitdenken
    – Der Sinn von Vergleichen liegt nicht darin, sich kleinzumachen, sondern zu sehen, wie man gewachsen ist.

5. Konkrete Beispiele für faire Vergleiche

  • Energiehaushalt
    Statt: „Warum halte ich nicht acht Stunden durch wie mein Kollege?“
    Besser: „Wie gut gelingt es mir heute im Vergleich zu letzter Woche, Pausen einzuplanen und danach konzentriert weiterzuarbeiten?“
  • Stressresistenz
    Statt: „Andere haben kein Problem mit Grossraumbüros, warum ich?“
    Besser: „Wie habe ich es geschafft, mir letzte Woche meine konzentrierte Arbeitszeit zu sichern, obwohl es turbulent war?“
  • Selbstführung
    Statt: „Andere sind strukturierter“ oder „spontaner, flexibler.“
    Besser: „Welche Strukturen helfen mir, meine Stärken auszuspielen, ohne auszubrennen?“

Solche Vergleiche öffnen neue Räume: nicht der Konkurrenzkampf zählt, sondern die eigene Entwicklung.

6. Quick Wins für den Alltag

Damit aus der Theorie Praxis wird, hier ein paar Quick Wins, die neurosensitiven Menschen helfen können, gesünder zu vergleichen:

  • Self-Check am Abend: Nicht „War ich besser als andere?“, sondern „Worauf bin ich heute stolz?“.
  • Mini-Reflexion pro Woche: „Was konnte ich diese Woche besser als letzte Woche?“
  • Stärken-Journal: Notiere regelmässig Situationen, in denen deine Sensitivität dir geholfen hat (z. B. Konflikt früh erkannt, kreative Lösung entwickelt, feine Stimmungslage im Team gespürt).
  • Vergleichspause: Fange an, bewusst zu bemerken, wann du in den Vergleich rutschst – und stoppe dich: „Moment, das ist ein Birnenmassstab, kein Apfelmassstab.“

7. Die Kraft der Selbstführung

Selbstführung bedeutet, die eigenen Rhythmen zu kennen und zu respektieren. Für neurosensitive Menschen ist das besonders wichtig. Wer sich ständig zwingt, nach fremden Massstäben zu arbeiten, landet im Dauerstress. Wer dagegen seine Energiezyklen ernst nimmt, gewinnt Stabilität und Widerstandskraft.

Das bedeutet konkret:

  • Regeneration fest einplanen statt Pausen als Schwäche sehen.
  • Sinnvolle Routinen entwickeln, die Energie stabilisieren.
  • Arbeitsweise bewusst kommunizieren: „Ich brauche nach intensiven Terminen einen kurzen Rückzug, damit ich danach wieder voll präsent bin.“
  • Vergleichsfilter nutzen: Nur Massstäbe gelten lassen, die wirklich zur eigenen Kategorie passen.

8. Warum Coaching hier den Unterschied macht

Viele neurosensitive Fachkräfte wissen theoretisch, dass Vergleiche wenig bringen, aber im Alltag tappen sie immer wieder in die Falle. Der innere Kritiker ist laut, die äusseren Erwartungen sind hoch, und die Routinen nicht befestigt.

Im Coaching öffnen wir genau diesen Raum:

  • wir entlarven die unpassenden Vergleiche,
  • wir entwickeln individuelle Massstäbe,
  • wir trainieren Selbstführung,
  • und wir stärken die Fähigkeit, Energie bewusst einzuteilen.

Der Effekt: weniger Selbstzweifel, mehr Gelassenheit, klare Orientierung.

9. Ein neues Narrativ: Vielfalt statt Einheitsmassstab

Stell dir eine Firma vor, in der alle gleich ticken. Es gäbe keine unterschiedlichen Blickwinkel, keine kreativen Spannungen, keine Innovation. Vielfalt macht Teams stark. Neurosensitive Menschen sind ein Teil dieser Vielfalt, keine Randerscheinung, sie liefern einen wertvollen Beitrag.

Wenn wir anfangen, Äpfel als Äpfel und Birnen als Birnen zu sehen, öffnen wir Räume für echte Kooperation. Es geht nicht darum, gleich zu sein, sondern zusammen mehr zu erreichen.

1 Gedanke zu „Äpfel mit Birnen vergleichen“

  1. Danke für diesen tollen Artikel! So herrlich bildlich beschrieben und so viele hilfreiche Praxisbeispiele. Gutes „food for thought“ und gute Anregungen für den Arbeitsalltag.
    Liebe Grüße,
    Evelyn

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