Es dauert. Es dauert lang.
Wenn ich meinen Papa in Budapest heute besuche, verbinde ich es oft mit einem Besuch im Thermalbad – eine kleine Auszeit, bevor ich die Strassenbahn entlang der Donau nehme, vorbei am Parlament bis zu dem Platz mit der grossen Kirche. Dort, in einer „Einzimmerwohnung“, verbringt er die kommende Jahre.
Es sind jetzt zwei Jahre, die sehr schwer waren. Aber eigentlich begann die Geschichte schon ein Jahr davor.
Ich erinnere mich an den Moment, als seine Kraft spürbar nachliess. Er sass stundenlang in seinem grossen Sessel, und ich sah ihn dort wie ein Echo meines Grossvaters. Kleine Alltagsdinge wurden zu grösseren Vorhaben. Er holte immer Brot und Milch, den Schinken für Ostern, Rosen oder Tulpen für den Tisch – ein Ritual, das zunehmend beschwerlich wurde. Doch schon davor gab es Zeichen. Als ihm der Führerschein entzogen wurde, weil er die Uhrzeit nicht mehr sicher erkennen konnte.
Trotz allem versuchte er, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren. Sein Auto hat er in ein weinrotes Wägelchen für den Gehweg, das Karma, wie wir es nannten eingetauscht – und stand sinnbildlich für seine Freiheit. Der Korb gefüllt mit allem, was er für seine Touren brauchte: seine Ausweise, Ein Sack, der Gehstock, und sein kleiner Einkauf. Selbst als seine Kräfte schwanden, erledigte er seine kleinen Pflichten: den Besuch in der Apotheke, beim Weinhändler oder hat Bilder einrahmen lassen. Eines Tages schleppte er sogar eine riesige Wassermelone mit sicher 10 Kilo nach Hause, legte sie – wie wir es als Kinder immer taten – in einen Eimer mit eiskaltem Wasser. Doch das Herausnehmen dauerte schon eine Ewigkeit. Und Hilfe wollte er nicht annehmen.
Ich habe ihm zugeschaut und dabei gesehen, wie seine Kraft verschwand. Seine schönen und schützende Hände, die einst sicher das grosse Messer hielten, um die Melone für die Familie zu schneiden – das „Schweinchen“ zu opfern. Diese Hände voller Erinnerungen. Erinnerungen, über die ich lange nicht sprechen konnte, weil das, was danach kam, noch schwerer wog.
Denn was ich nicht wusste: Nicht die tägliche Pflege oder das langsame Verschwinden der Lebenskraft war das Härteste. Das Schwerste war die Überlegungen und Entscheidung, wie lange trauen wir es uns zu, ihn selber zu Hause zu pflegen.
In unserer Gesellschaft ist der Verlust selbst nicht die grösste Last. Es ist der Umgang mit dem Abschied. Wie verabschiedest du einen geliebten Menschen so, dass er seine Würde behält und deine Seele Frieden findet? Wo ist die Grenze zwischen dem, was Angehörige leisten können, und dem, was Pflegekräfte tun dürfen – oder tun müssen? Was ist mit den bürokratischen Hürden, den Kosten, den unzähligen Entscheidungen, die in einem ohnehin belastenden Moment getroffen werden müssen? Wo sind unsere eigene Grenzen, weil das an einem richtig zerrt.
Und dann bleibt am Ende ein leeres Bett. Zerknitterte Bettwäsche ausgekühlt, gefaltete Decken, die niemanden mehr wärmen.
Doch damit ist es nicht vorbei. Für die Hinterbliebenen beginnt eine andere Art von Trauer: das Suchen, das Umschreiben, das Aufräumen, das Aussortieren. Was bleibt? Was kann gespendet werden? Was kann weg? Und dann – Monate später – flattern noch Rechnungen im Namen eines Menschen, der sie gar nicht mehr selber die Leistungen beziehen konnte. Ein absurdes System, das den Tod nicht kennt.

Es dauert. Es dauert lang.
Und gleichzeitig ist es ein Weg, der mich verändert hat. Als Coach arbeite ich mit Menschen, die mit Akzeptanz, mit Veränderung und auch mit Verlust umgehen müssen – manchmal beruflich, manchmal persönlich. Doch was ich in diesen letzten Monaten mit meinem Papa gelernt habe, ist: Es gibt keinen schnellen Weg durch den Schmerz. Es gibt nur den eigenen.
Was ich heute mitnehme: Abschied ist nicht nur das Loslassen eines Menschen, sondern auch das Neuordnen des eigenen Lebens. Es braucht Zeit – und manchmal auch eine Strassenbahnfahrt entlang der Donau, um sich daran zu erinnern, was bleibt.
